Jeder ist ein Spezialist in irgendwas, jeder hat einen kleinen Nerd in sich. Das ist nicht nur gut, sondern kostbar für unsere Gesellschaft.
Evonik Magazin, 02/2014
Agentur: Bissinger +
Chefredaktion: Ralf Grauel
Auflage 80.000
Sind Sie Spezialist?
Können Sie bei einem Popsong in Echtzeit die Akkordfolge mitschreiben? Wissen Sie, wann an der schottischen Ostküste der beste Zeitpunkt für Rasendüngung ist? Kennen Sie ein Rezept für eine butter- und sahnefreie Mousse au Chocolat? Fällt es ihnen leicht, 12 Seiten juristisch unangreifbares Kleingedrucktes für komplexe Finanzprodukte zu formulieren? Arbeiten Sie gerade an einer Analyse der nihilistischen Aspekte des Existenzialismus?
Sie haben keine dieser Fragen mit „ja“ beantwortet, stimmt´s?
Macht nichts.
Eines steht trotzdem fest:
Sie sind ein Spezialist.
Sie wissen etwas, das wenige wissen, denken etwas, das wenige denken, können etwas, das wenige können. Und Sie sind nicht allein:
Jeder von uns ist ein Spezialist.
Spezialist für Greens. Für das Erraten von Katzengedanken. Für das Überleben in Höhlen. Für Erdbeer-Rhabarber-Marmelade. Für die Mechanik von Wirbeln. Für das Behandeln von Liebeskummer. Für multimodale Logistik-Ketten. Für Schwarz. Für Anna. Für Dinge, die es noch gar nicht gibt.Gewöhnen wir uns einfach daran:
Spezialist zu sein ist nichts Spezielles.
Es ist das Normalste auf der Welt.
Wir sind also Spezialisten. Aber warum? Und warum können wir offensichtlich gar nicht anders? Erklärungsversuche gibt es viele, aber im Grunde variieren sie nur diese drei wesentlichen Zutaten:
Biologie
Das Leben ist ein großer Fan von Diversifikation, also der Kunst, eine Nische auszufüllen. Allein die Tatsache, dass niemand genau weiß, wie viele Arten von Lebewesen, oder besser gesagt: Überlebens-Spezialisten heute auf der Erde leben, sollte Beweis genug dafür sein: Schätzungen schwanken zwischen 1 Million und mehreren Milliarden…
Wenn man zu diesem allgegenwärtigen Drang der Natur zur Diversifikation noch ein großes (wenn auch nicht immer sorgfältig genutztes) Gehirn und zwei sehr geschickte Hände addiert, dann entstehen fast unausweichlich die fulminantesten Nischen-Ausfüller südlich des Andromeda-Nebels: Wir Menschen.
Unsere Hand+Hirn-Kombination macht alles Mögliche möglich: Das Bekritzeln von meterlangen Wandtafeln auf der Suche nach der Weltformel, das Legen eines 4-fachen Bypass und natürlich Schreiben, eine Disziplin, die selbst wiederum unzählige Spezial-Nischen anbieten, wie ein Blick in jede Buchhandlung offenbart. Rein biologisch können wir eigentlich gar nicht anders, als uns zu spezialisieren.
Biographie
Menschen sind biographisch gesehen so etwas wie eine Straßenkreuzung in Kalkutta zur Rush-Hour: In jedem von uns treffen Familiengeschichte und Zeitgeschichte, Stand der Wissenschaft und Stand der Dogmen, Zeitgeist und ewige Werte, vererbte Begabung und erworbenes Können aufeinander – wenn auch nicht immer mit bemerkenswerten Resultaten.
Aber manchmal, wenn alle Ampeln dieser Kreuzung auf Grün schalten, wenn alle Fäden unserer Biographie an einem Strang ziehen, dann schreibt Albert Einstein plötzlich innerhalb eines Jahres in der staubigen Langeweile des Berner Patentamtes drei Papiere, die unser Wissen über den Kosmos revolutionieren; dann findet Clyde Tombaugh den Planeten Pluto, nur weil er jeden Tag akribisch die Positionen von über 60.000 Sternen vergleicht, monatelang; dann tun wir Dinge, die nur wir zu dieser Zeit an diesem Ort tun konnten. Wir sind auch deswegen Spezialisten, weil unsere Biographien speziell sind.
Psychologie
Es geht aber, wenn es nach den Psychologen geht, auch einfacher:
Spezialisten werden wir vielleicht einfach deshalb, weil wir Hingabe, Gleichmut und die bewundernswerte Fähigkeit besitzen, uns ausgiebig nur einer Sache zu widmen. Weil wir der Komplexität der Welt manchmal nur die Versenkung in ein Detail entgegen setzen können. Das gilt für Teilchenphysik, die Fertigung von Pralinen und auch für Binge-Watching, die Kunst, an einem einzigen Wochenende eine volle Staffel „Game of Thrones“ oder „Breaking Bad“ durchzustehen. Wodurch man vielleicht nicht das Nobelpreis-Komitee auf sich aufmerksam macht, aber auf jeden Fall am Montag im Büro glänzen kann.
Diese Fähigkeit zur geduldigen Fokussierung, zur hingebungsvollen Konzentration ist in jedem Fall eine Grundzutat des Spezialistentums.
Die Herren der Knöpfe
Unser Spezialistentum erklärt vieles, von den Pyramiden bis zum Lichtmikroskop für Moleküle – vor allem aber erklärt es unsere erstaunliche, genau betrachtet fast totale Ahnungslosigkeit der Welt gegenüber.
80 Millionen Deutsche wissen, wie man einen Fernseher einschaltet. Vielleicht 8 Millionen haben eine ungefähre Vorstellung davon, wie der Anschaltknopf funktioniert, den sie, seitdem der Fernseher ausgepackt und angeschlossen war, nie wieder benutzt haben, höchstens 800.000 ahnen, wie das die Fernbedienung eigentlich hinbekommt, den Flimmerkasten an- und umzuschalten, ohne ihn zu berühren. Aber weniger als 80.000 Deutsche könnten bis ins Detail erklären, wie Günther Jauch von seinem Berliner Studiosessel auf südhessische oder nordfriesische Mattscheiben kommt, ohne die Luft dazwischen bunt zu verfärben.
Wir anderen (und der ganz überwiegende Rest der Weltbevölkerung) haben keinen blassen Schimmer, wie das überhaupt möglich ist.
Macht aber nichts, ist ja auch nicht unser Spezialgebiet, sondern das von anderen?
Stimmt. Ohne teils Jahrhunderte altes Spezialistentum, vom Glasbläser bis zum Elektroingenieur, vom Kumpel unter Tage bis zum Hochfrequenzphysiker gäbe es kein Fernsehen. Aber das merken wir erst, wenn die Kiste plötzlich zu flimmern anfängt und wir nichts weiter tun können, als erst der Reihe nach alle Knöpfe der Fernbedienung zu drücken. Und dann alle auf einmal.
So ist das eigentlich überall:
Teilchenbeschleuniger, Touchscreens, sogar das gute alte Aspirin sind Früchte des Spezialistentums und wir danken in hellen Momenten den Spezialisten, die das möglich gemacht haben – aber die Kehrseite ist, dass wir für praktisch nichts mehr, mit dem wir täglich umgehen, Spezialist sind.
Spezialistentum entdeckt nicht nur das Higgs Bosom, zaubert Kopfschmerzen weg und macht Handytasten überflüssig, es macht manchmal auch hilflos und abhängig – wenn wir unseren neuen W-LAN-Router konfigurieren müssen oder der Funkschlüssel unseres Autos den Geist aufgibt und wir für einen Moment lang buchstäblich die Welt nicht mehr verstehen.
Aber bei Licht betrachtet sind das nur minimale Risiken und Nebenwirkungen eines Phänomens, das uns ansonsten Tag und Nacht mit den unglaublichsten Möglichkeiten beschenkt:
Wie viele Spezialisten braucht es, damit uns der Rettungshubschrauber von der Autobahn holen kann? Wie viele, um online die Rafting Tour im Grand Canyon zu buchen? Wie viele, damit jeden Morgen ein Knopfdruck auf die Kaffeemaschine genügt, um uns duftend aus dem Reich der Träume zu evakuieren?
Dafür kann man schon mal ein wenig Ratlosigkeit beim Ausfall des Heckscheibenwischers in Kauf nehmen.
Die relative Spezialitätstheorie
Eine letzte Frage bleibt:
Ist Spezialistentum unterm Strich also gut? Für uns? Die Gesellschaft? Den Planeten? Die bequeme (und wahre) Antwort darauf wäre: Diese Frage ist irrelevant.
Denn unser Drang zur Spezialisierung ist in etwa so verhandelbar wie Schwerkraft, Durst oder steigende Benzinpreise vor den Sommerferien.
Mit anderen Worten: Gar nicht.
Wir sind geborene Spezialisten und selbst wenn das schlecht wäre, wäre es nicht zu ändern. Punkt.
Aber wir wären nicht Spezialisten für alles Mögliche, zum Beispiel für Happy Ends, wenn wir selbst in dieser nüchternen Antwort nicht noch Sinn und Glanz finden könnten: Dass wir Spezialisten sind, ist unser größtes Geschenk an uns selbst. Es ist der Grund, warum wir uns nicht um alles kümmern müssen und doch für fast alles gesorgt ist. Es ist der Grund, warum jede Generation höher und mutiger Träumen kann, weil wir den Raum des Möglichen Tag für Tag erweitern. Es ist der Grund, warum uns niemals die Fragen ausgehen werden.
Unser ganzes Leben ist genau deswegen so unglaublich facettenreich, so unüberschaubar vielfältig, so bis zum Bersten gefüllt mit Möglichkeiten, weil wir es so machen.
Wir alle. Jeden Tag. Wir Spezialisten.