09.03.2015

Wir sind Helden

Wir sind Helden

Immer wenn wir aufbrechen, um uns selbst, unsere Firma, unsere Gesellschaft neu zu erfinden, folgen wir einem geheimen Script.

Eben noch war alles in bester Ordnung im Auenland: das Klima wohl temperiert, die Äcker fruchtbar und Frodo der Hobbit hatte keine größere Sorge, als die, wo er das nächste Päckchen Tabak Marke „Alter Tobi“ würde auftreiben können. Aber dann klopft Gandalf der Zauberer an seine Tür…
1200 Seiten Buch (oder 11 Stunden Film) später ist der kleine Hobbit mit den großen Füßen nicht nur selbst zutiefst verwandelt, er hat auch durch seinen Mut und Durchhaltewillen ganz Mittelerde vor einer übermächtigen Bedrohung gerettet und in eine bessere Zukunft geführt.

Jede große Geschichte entführt uns in ihre ganz eigene Welt: Nach Mittelerde, in das Land der Zauberer und Ork-Horden oder nach Japan, ein Inselreich umzingelt von den unergründlichen Schlünden des Pazifik, in die britische Spy-Society mit ihren Verrätern, Verfolgungsjagden und geschüttelten Martinis, oder in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in die harsche Realität der amerikanischen Südstaaten.
Aber wer Tolkiens Fantasy-Epos „Der Herr der Ringe“ nur für eine farbenprächtige, dramaturgische Meisterleistung hält (oder eine größenwahnsinnige Orks-gegen-Elben-Soap-Opera), wer in Godzilla nur Japans Antwort auf King Kong sieht, James Bond lediglich als Smoking-Schläger schätzt und die Bürgerrechtsbewegung der USA nur unter „lange vorbei“ einsortiert, übersieht das Entscheidende:

Man muss nur untote Könige auf Flugsauriern, schmusebedürftige Agenten-Gespielinnen oder tapfere Bürgerrechtler ersetzen durch einen starrköpfigen Firmengründer, absurde Zulassungsverfahren, eine fantastische Produktidee und das frische Team im Marketing und schon ist man mitten drin in dem täglichen Ringen eines Unternehmens mit Globalisierungsdruck, sich wandelnden Märkten und einem Neuland namens Internet.
Und es geht noch konkreter: Wir ersetzen die Protagonisten aus Mittelerde & Co einfach durch die bildhübsche Iris aus der 3b, den kräftigen Nebenbuhler mit dem schicken Bonanza-Rad und die beiden Kumpels, die unsere Liebesbriefe zur Angebeteten schmuggeln – und landen sofort in den kleinen aber sehr realen Dramen unseres eigenen Lebens.

Wahre Geschichten
Das Faszinierende am „Der Herr der Ringe“ und seinen Geschwistern im Geiste ist eben nicht ihr Reichtum an Monstern & Magie & Aston Martins. Das Faszinierende ist, dass sie uns, genau wie alle großen Dramen von „Odysseus“ bis „Breaking Bad“ das uralte, immer wieder kehrende Grundmuster zeigen, nach dem unsere Selbsterneuerung abläuft. Ein Muster, das so alt ist, wie die Menschheit und das in der Erzähltheorie auf den schönen Namen „Heldenreise“ hört, auch wenn der Held, siehe „Breaking Bad“ oder „Macbeth“ durchaus ein dunkler Held sein kann. Es ist ein Muster, das weder Homer noch Hollywood erfunden, sondern nur in großen Bildern und Figuren verdichtet hat.

Das Verblüffende an diesem Muster ist, dass wir alle es kennen. Weil wir es alle selbst immer wieder erlebt, erlitten, durchkämpft haben. Jede Prüfung, jeder Jobwechsel, sogar der lange Weg zum ersten Engtanz mit Iris aus der 3b lief nach diesem Muster ab.
Und auch das fantastische Abenteuer-Epos namens „Wirtschaft“ ist von diesem Muster durchzogen, denn auch Produkte, Strategien, ganze Unternehmen brauchen immer wieder einen Neustart. Wenn man das Muster dieser Selbsterneuerung kennt, wenn man das Meeting mit dem Vertrieb oder die Schulhofklopperei mit dem Nebenbuhler als Teil der Heldenreise einordnen kann, ergibt manche Irrung unseres Lebens plötzlich einen Sinn.

Der Weg ist der Weg
Die Heldenreise beginnt immer im Alltag, im Alles-läuft-rund: Mit dem gewohnten Gang des Lebens in einer Kleinstadt im Süden der USA. Mit einer Firma, bei der der Umsatz stimmt und die Rendite passt, mit gepflegter Schulhof-Langeweile. Im Kino sehen wir friedliche Fischer bei ihrer nächtlichen Arbeit in der japanischen See oder entspannte Hobbits im Auenland.

Aber plötzlich stört etwas die friedliche Szene. Manchmal ist es nur die verrückte Idee, die wir morgens beim Rasieren haben oder eine erschöpfte farbige Frau, die nicht für einen Weißen Ihren Sitz im Bus aufgeben mag. Auf dem Schulhof hüpft in solchen Momenten ein blonder Pferdeschwanz an uns vorbei und in der japanischen See tauchen für drei Sekunden gigantische Reptilien-Zacken aus den Wogen und wir im Kinosessel denken das, was alle Selbsterneuerer in solchen Momenten denken: „O-oh.“ bzw. „Au weia!“ während in Mittelerde Gandalf gerade den jungen Frodo bittet, ob jener eventuell Lust hätte, diesen fiesen Ring, der sonst die Welt vernichten würde, zu, nun ja, zu vernichten. In einem Vulkan. 1.800 Meilen entfernt.

Das ist der Weckruf.
Der Bruch in der Normalität. Der Beginn der Heldenreise. Obwohl: wenn es nach dem Helden geht, wird es diese Reise definitiv nicht geben. Frodo würde ja gern, aber das können andere doch besser, oder? In Japan wird die Sichtung Godzillas durch die Fischer nicht ernst genommen, in Montgomery / Alabama ahnt kaum jemand, welche Erneuerung die Sitzplatzverweigerin Rosa Parks gerade in Gang gesetzt hat, im 10:30 Uhr-Meeting gibt es viele gute Argumente, warum unsere Idee zwar ganz nett ist, aber absolut keine Chance hat und das zum Pferdeschwanz dazugehörende Mädchen ist natürlich und aber sowas von schon in festen Händen. Kurz: Man versucht, den Weckruf abzuwimmeln. Denn jeder ahnt, was für eine Aufgabe da lauert.

Die Macht der Mentoren.
Jemand wie James Bond hat es an dieser Stelle leichter: Weltrettung ist nun mal sein Job und abwimmeln läuft nicht, sonst hat er sofort „M“ an der Backe. Aber er – genau wie alle anderen – braucht jetzt einen Mentor, einen weisen Ratgeber, der ihn berät und unterstützt und vorwärts treibt.
Im Fall von 007 ist das „Q“ mit schießenden Kugelschreibern, Frodo hat Gandalf, den mindestens zweitbesten Zauberer von Mittelerde, Sherlock Holmes Dr. Watson und Don Quichotte immerhin noch Sancho Panza.
Und wir? Wir haben hoffentlich eine Freundin, die nach dem 10:30 Meeting ein „Seit wann hörst Du denn auf diese Vögel?“ in ihren Latte kichert oder den dicken Tim, der uns den liebeskranken Rücken stärkt.
Und diese Unterstützung ist entscheidend, denn ohne sie schaffen wir es nicht über das, was Geschichtenerzähler „die Schwelle“ nennen. Die Schwelle, hinter der die Heldenreise unwiderruflich auf ihren Höhepunkt zusteuert.

Kein Zurück mehr
Sobald wir sie überschritten haben, geht es los. Plötzlich sind die Risiken und Herausforderungen um ein Vielfaches höher und plötzlich wird es schmutzig: Rosa Parks wird nicht einfach nur verhaftet, sie erhält Todesdrohungen. Godzilla spielt nicht mehr nur Schiffe-Versenken sondern Großstädte-Zertrümmern. Frodo begegnet den furchtbaren Dunklen Reitern. Und für uns wird der sanfte Gegenwind, der durchs erste Meeting wehte, zu einem Sturm: Das Controlling hält die Kosten für zu hoch, Marketing glaubt, die neue Anzeigenserie wird eh alles richten und die IT… wie gesagt, es wird schmutzig.
Vor allem, als der Nebenbuhler entdeckt, dass wir ein Auge auf das elfengleiche Wesen an seiner Seite geworfen haben.

Aber wir finden auch neue Alliierte in dieser Zeit und unerwartete Verbündete. So wie sich König Aragorn unerkannt an Frodo´s Seite stellt und Rosa Parks nicht mehr allein durch Montgomery geht sondern mit Martin Luther King und Tausenden anderen die Busse bestreikt, so rettet vielleicht der unscheinbare Typ aus der Postabteilung unsere Idee durch einen genialen Einfall und der Vertrieb äußert ein nach seinen Verhältnissen hymnisches „Das könnte man schon verkauft kriegen, irgendwie…“.

Zeit für die Entscheidung.
Den Showdown. Die Bezwingung des Monsters.In unserem Fall fährt das Monster dieses Fahrrad mit dem scharfen Bananensattel oder ist eine Powerpoint-Präsentation, die den Vorstand, zu dem wir nach langen Kämpfen vorgedrungen sind, überzeugen soll. In unter fünf Minuten. Und während wir Chart um Chart schreiben und wieder löschen beschleicht uns der Verdacht, ob das wahre Monster nicht vielleicht der Vorstand… aber das vergeht wieder. Am Ende zwingen wir dem Präsentations-Template unseren Willen auf und ernten homöopathisch dosiertes Nicken hochrangiger Manager – was in der Sache prima, visuell aber nicht so der Kracher ist. Rosa Parks ging es ähnlich: Ihr spektakulärer Kampf endete mit nichts als dem Kratzen eines Füllfederhalters über Büttenpapier – aber wenigstens war der Unterschreibende amtierender US-Präsident und das Papier das Gesetz zur Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Kino hat es da leichter. James Bond darf regelmäßig die Festung des Bösen auf visuell ansprechende Weise zerlegen, Godzilla wird durch den Mut und die Selbstlosigkeit des Helden inmitten pittoresk qualmender Großstadttrümmer zur Strecke gebracht und bei Frodo gibt es einen 1A Vulkanausbruch als Zugabe zu Riesen-Adlern und Elben-Heeren. Und gegen das, was der Engtanz mit Iris in uns auslöst, den wir durch die nächtliche Umlackieren ihres Fahrrades in Hochglanz-Power-Rosa errungen haben, sind sogar Hollywoods Bildzauberer machtlos…

Nach der Reise ist vor der Reise
Aber am Ende zählt nur eines: Wir haben die Reise siegreich überstanden. Und wenn nicht, haben wir uns doch selbst erneuert auf dieser Reise, neue Stärken entdeckt, neue Freunde gewonnen, neue Kraft entwickelt. Das ist gut für unsere nächste Reise. Denn aufbrechen – das werden wir wieder, keine Frage.

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