Biografie von „Lord of the Board“ Titus Dittmann

Titus Dittmann – Brett für die Welt

Brett fuer die welt bg

Prolog 14. Januar 2011, 800 Kilometer westlich von Kabul.

Der Kampfhubschrauber dreht wieder ab. Er macht eine scharfe Wende zurück zu der zweiten Maschine, die ihm aus einiger Entfernung Deckung gegeben hat. Die Sonne blitzt im Glas der Pilotenkanzel auf, aus der offenen Kabinentür ragt ein schweres Maschinengewehr, dahinter der Schemen eines GI. Augenblicke später sind die beiden Maschinen hinter dem nächsten Bergkamm verschwunden. Unsere kleine Zusammenrottung wurde als „non-threatening“ eingestuft, „nicht bedrohlich“.

Recht haben sie.

Ich halte ein kleines Tadschiken-Mädchen an den Händen, sie kichert und juchzt während sie versucht sich auf dem Skateboard zurecht zu finden und ich hoffe, dass es nicht mein ungeschickt gebundener Turban oder meine Tombon, die superleichte, geräumige Hose mit dem Peron drüber ist, der sie so zum Lachen bringt.

Der mit der Hand geebnete Ortbeton unter meinen Gummilatschen ist für die Verhältnisse hier perfekt geworden auch wenn kein deutscher TÜV das als genormte Skateboardbahn abnehmen würde. Egal, es ist kein deutscher Prüfer in Sicht und das hier ist nicht Münster/Westfalen, das hier ist Karokh / Afghanistan.

Um uns herum auf der frisch eingeweihten Skateboard-Bahn johlen und kreischen an die 400 Mädchen, die alle eins der 20 vorhandenen Skateboards ergattern wollen. Der Schuldirektor hat diesen Ausnahmezustand genehmigt, weil Uli Gack vom ZDF da ist, um diese für Afghanistan extrem ungewöhnliche Situation für das Auslandsjournal festzuhalten.

Das allein ist schon etwas Besonderes in einem Land, das für Jugendliche eigentlich nur Armut, Fanatismus, Krieg und Drogenanbau bereithält – oder auch gern mal alles vier gleichzeitig.

Zu einem lupenreinen Wunder wird das Gewimmel aber nach Schulschluss aus einem anderen Grund:

Hier skaten Jungen und Mädchen, Paschtunen und Tadschiken, Sunniten und Schiiten, Kinder aus armen und Kinder aus reichen Familien einträchtig nebeneinander – normalerweise undenkbar in einem Land, in dem extrem auf saubere Trennung zwischen Geschlechtern, Volksgruppen und Glaubensrichtungen geachtet wird.

An den Rändern der Anlage hocken die Lehrer, bärtige Männer mit stechendem Blick, die jetzt allerdings eher erstaunt bis ratlos gucken:

„Was machen die vielen Kinder nur mit diesen Mäuseautos?“

Hinter ihnen, an der nahe gelegenen Nachbarschule fehlen etliche Scheiben, bei einem Teil der Gebäude sind die Lehmdächer eingefallen und ein halbes Dutzend Fenster sind nur noch rußgeschwärzte Höhlen.

All das ist nicht ungewöhnlich nach Karokher Maßstäben, aber die Kinder lachen und toben, als lägen hinter der zwei Meter hohen Umgrenzungsmauer keine ärmlichen Lehmhütten ohne Wasser und Strom sondern schnuckelige Villen auf sonnigen Hindukusch-Wiesen.

Plötzlich sind meine Hände leer.

Das Mädchen hat mich losgelassen. Sie steht zwar etwas kippelig, aber sie hält ihre Balance, richtet sich auf, steht auf eigenen Rollen. Ein kleines, stolzes Lächeln macht sich auf ihren Lippen breit. Wenn alles läuft, wie geplant werden ihr noch viele weitere folgen.

Ich gehe wieder hinüber zu Rupert Neudeck, dem Mann, mit dem ich nach Afghanistan gekommen bin und mit dessen Grünhelmen e.V. wir diese Bahn realisiert haben. Er spricht noch mit seinem afghanischen Bauleiter Zobair Akhi, einem freundlichen, zurückhaltenden Mann, ohne dessen Einfühlungsvermögen und eisernen Durchsetzungswillen hier nichts funktionieren würde.

Während ich warte, sehe ich den Kindern zu, wie sie unter Anleitung von Marc Zanger und Maurice Ressel, zwei deutsche Skateboarder, die monatelang das Projekt vor Ort unterstützt haben, mit jedem Pushen mutiger werden, mit jedem kleinen Trick mehr Selbstbewusstsein gewinnen. Kaum klappt etwas, sehen sie stolz zu ihren Lehrern, Freunden, Eltern und Verwandten hinüber, die gekommen sind, um diese seltsame Anlage der Deutschen in Augenschein zu nehmen. Auch der Mullah ist da, wir beäugen ihn vorsichtig, aber der weise alte Herr mit dem typischen Bart nickt wohlwollend. Die anderen Erwachsenen registrieren das genau und die Stimmung wird zusehends gelöster.

Karokh ist nicht nur nach afghanischen Maßstäben eine Idylle und ein krasser Gegensatz zur Großstadt Herat, aus der wir am Morgen gekommen sind.

In Herat ist alles fremd in einem Maße, dass man es kaum beschreiben kann. Allein die Gerüche: Dieselabgase, offene Kloaken, verwesender Müll und frisch geschlachtete, noch ausblutende Ziegen am Straßenrand, vermischt mit den leckeren Aromen der Garküchen und Gewürzständen – „atemberaubend“ wäre eine echte Untertreibung.

Und dazu die Geräusche, diese Mixtur aus Autohupen, Marktschreiern, Muezzin-Gesängen und immer wieder vorbeilärmenden Polizei- oder Militärkonvois.

Sogar der Himmel mit seinem endlosen Hellblau über Hauswänden voller Einschusslöcher ist anders als alles, was ich je über dem Westerwald gesehen habe.

Es wäre so einfach, sich hier als komplettes Alien zu fühlen:

„Falscher Planet, ab zurück ins Raumschiff, Jungs!“.

Aber genau das Gegenteil ist der Fall.

In den vergangenen sechzig Jahren habe ich in Deutschland ein Unternehmen gegründet und fast wieder ruiniert, bin mit dem Drachen abgestürzt und vom Nürburgring geflogen, habe Orden bekommen, einen Sohn und das schönste Mädchen der Kirchener Disco, wurde zum Skateboard-Papst gehyped und als Geschäftemacher beschimpft, in der Westfalenhalle umjubelt und von Bankern erniedrigt, habe Halfpipes entworfen, vor meinem Lamborghini geposed und mit Tony Hawk gefrühstückt, habe genug Triumphe und Niederlagen für drei Leben gehabt –

aber hier, in den kargen Bergen Nordafghanistans fühle ich mich mehr Zuhause, als jemals in meinem Heimatort Kirchen im Siegerland am Fuße des Westerwalds.

Und ich brauche nicht lange zu grübeln, warum das so ist:

Um mich herum skateboarded alles und ich spüre wieder diese wahnwitzige Mischung aus Lebensfreude und Schürfwunden, aus zusammengebissenen Zähnen und stolzem Lachen, aus Individualist sein und zum coolsten Clan der Welt gehören.

Diese Mischung gibt es nur beim Skateboarden.

Ich bin genau da, wo ich hingehöre.

Aber wie zum Teufel bin ich hierhergekommen?

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