Menschen dirigieren

Warum gute Führung nichts mit Macht zu tun hat

Vor dir eine schwarz-weiße Wand aus hundertzwanzig Sängern. Dunkle Anzüge, lange Kleider, hundertzwanzig Cover von Bachs Johannes-Passion. Zu Deinen Füßen drei Dutzend Musiker, halb in das Licht ihrer Pultlampen getaucht. Bögen kratzen noch einmal über Bratschen-Saiten, Trompeten blasen Kondenswasser aus, der Cembalist reibt sich verstohlen die Hände an der Hose. Hinter dir schwirrt und wispert die vielhundertköpfige Menge wie ein sehr gut erzogenes Fußballstadion vor dem Elfmeter.

Dann hebst du die Arme und für volle zwei Sekunden ist niemand im Saal, der atmen kann oder will. Deine linke Hand schlägt zwei kaum sichtbare, weiche Bögen. Hundertfünfzig Augenpaare folgen der Bewegung, das Tempo steht.

Noch müssen die Sänger schweigen, noch staut sich alles in ihnen auf, aber der Damm, er bekommt Risse und Du weißt es, spürst es, genießt es. Noch nicht! sagt deine rechte Schulter zum Chor während du dich zum Orchester beugst, noch nicht! Denn es sind die Violinen, die als erste durch einen einzigen, federnden Impuls deiner Arme von der Leine gelassen werden. Und sie wirbeln los, strömen fiebrig über den Kontrabass wie Quecksilber. Nur einen halben Herzschlag später die Oboen, aus dem Nichts, schmerzhaft verschlungen in scharfe Dissonanzen. Leid und Todesahnung, achtzehn Takte lang. Erst dann siehst du auf, siehst in hundertzwanzig gebannte Gesichter, siehst das Endlich! in ihren Augen und mit einer Geste kaum größer als das Heben eines Glases lässt Du den ersten Chor-Akkord explodieren: „Herr!“

Dirigieren ist Glück. Ist Macht. Ist die vielleicht absoluteste Form von Herrschaft außerhalb Nordkoreas. Ein fast unsichtbarer Impuls des kleinen Fingers, ein Aufrichten des Oberkörpers, ein Blick – und der Raum füllt sich mit Musik.

Bis, irgendwann, etwas schief geht.

Nicht zum ersten Mal, natürlich nicht. Aber dieses Mal, zum ersten Mal, erkennst du plötzlich, dass der verhaspelte Einsatz der Streicher, das Schleppen der Tenöre, das unsaubere hohe G im Sopran nicht der Fehler der Musiker war.

Sondern deiner.

Dir wird ohne den Hauch eines Zweifels klar: Du hast die Streicher nicht rechtzeitig gesammelt, du hast den Tenören keinen klaren Fluss gegeben, du hast, und hier wird es schmerzhaft, die Soprane an ihrer schwierigsten Stelle nicht mit jeder Faser deines Körpers über ihre eigenen Grenzen hinausgetragen.

Die Musiker wissen das nicht, Gott sei dank, und du verrätst es ihnen nicht. Aber die Klarheit dieses Moments brennt sich in dir ein: Das warst alles du. Alles.

Und plötzlich wird aus absoluter Herrschaft absolute Verantwortung. Plötzlich geht es nicht mehr um deine Macht, sondern um euren gemeinsamen, wahnwitzigen Tanz, um uncoole Wörter wie Respekt und Demut. Plötzlich, in diesen hundertzwanzig Minuten zwischen Eingangschor und Schlussakkord, diesem rauschhaften Jetzt-oder-Nie lautet die Frage nicht mehr: wie heftig wird der Applaus? sondern: habe ich sie gut geführt?

Spannende Frage, das.

Vier Lektionen, die ich am Dirigenten-Pult gelernt habe:

1 Alle sind besser als Du

Eigentlich sind Dirigent und Agenturchef absurde Berufe. Der eine ist der einzige Musiker im Saal, der keine Töne produziert, der andere der einzige Werber im Konfi, der im Zweifel nicht mal die Idee für den Regalwobbler hatte. Und das ist auch gut so. Denn wenn alles richtig gelaufen ist, ist jeder Musiker oder Werber im Team in seinem Spezialgebiet besser als der Mensch, der vorne steht. Sehr viel besser.

Damit kann man auf zwei Arten klar kommen.

Sehr beliebt: Es alles als seine eigene Idee bzw. Musik ausgeben. Wie das bei Dirigenten aussieht, weiß man: leidenschaftliche Gesten, dramatische Mimik, ein Regen silberner Schweißtröpfchen bei jedem herrischen Schwenk der Mähne.

Als Agenturboss reicht schon das gönnerhafte Reingrätschen in die Präsentation.

Fühlt sich prima an, solange man nicht in die Gesichter des Teams guckt. Vielleicht drehen Dirigenten deshalb bei der Entgegennahme des Applauses dem Chor den Rücken zu…

Man kann natürlich, Variante zwei, auch einfach seine Leute lieben für all das, was sie geleistet haben – und sie glänzen lassen. Macht Sinn, die sind sowieso alle besser als man selbst.

2 Leise ist lauter

Wenn der Chor doppelt so groß, der Kundenauftrag doppelt so wichtig oder lukrativ wie normal ist, dann führen wir sehr gern auch mal doppelt so „laut“ wie normal. Das Problem daran sind nicht die lahmen Arme ab dem zweiten „Kyrie“ oder die rauen Stimmbänder nach der vierten, liebevoll zusammengezimmerten Motivationsrede. Das Problem ist, dass unser ganzes Gefuchtel und Gerede immer schneller immer weniger bewegt.

Es ist wie mit allem: Viel hilft viel – aber nur sehr kurz. Die Liste der schlechten Beispiele ist so lang wie ernüchternd: Antibiotika, Chateauneuf du Pape, Hypothekenkredite und Transformers I-IV, um nur einige zu nennen.

Der eigentliche Trick ist, grundsätzlich und gewohnheitsmäßig leise zu sein. Dafür sprechen zwei Gründe. Erstens: Wenn man dann wirklich mal laut wird, passiert auch wirklich was. Zweitens: Man muss gar nicht mehr laut werden.

Wer einmal erleben durfte, wie ein knorriger, „Nil“ kettenrauchender Chorleiter zweihundert Sänger mit nichts – wirklich: absolut nichts – außer seinem linken (vorletzter Akkord) und rechten (letzter Akkord) kleinen Finger durch das Ende einer großen Motette gewuchtet hat, ohne dass irgendjemand in der akustischen Unendlichkeit des gotischen Domes mehr als eine Zehntelsekunde abgewichen wäre, weiß, was gemeint ist.

3 Liebe den Schwarzer Peter

„Das Briefing“, „Das Timing“, Das Budget“: Auf den Agentur-Altären der akzeptierten Ausreden für schlechte Ergebnisse stehen diese drei Halbgötter ganz weit vorn. Denn im Fog-of-War der Kampagnen-Entwicklung übersehen wir leicht, was am Dirigentenpult so offensichtlich ist:

Wir selbst sind es, die all das prägen, formen, beeinflussen, was unser Team produziert. Wirklich alles. Auch die Fehler.

Zumindest ist es schlau, so radikal zu denken. Denn dann können wir auch radikal anders führen: vorausschauender, demütiger, selbstkritischer. Dann können wir versuchen, Fehler zu verhindern, bevor sie überhaupt entstehen.

Im Brahms Requiem gibt es im 2. Satz einen Übergang von solcher Komplexität, ich habe für diese zwei Takte Musik ein halbes Dutzend Nachhilfestunden bei meiner alten Professorin genommen. Die Chorsänger wusste nichts davon und haben nie gemerkt, dass diese Stelle eigentlich zu schwierig für mich – und für sie – war.

Hilfe holen? Klar, musste da das Ego kurz mal schlucken. Aber was wäre die Alternative? Hinterher andere, im Zweifel die eigenen Leute (oder, noch lustiger: Brahms!) als Ausrede benutzen?

Auf Harry S. Trumans Schreibtisch im Weißen Haus stand ein Schild mit der Aufschrift: „Hier ist Endstation für den Schwarzen Peter“. Das ist unsere Jobdescription.

4 Hier waren wir noch nie

Das „Halleluja“ aus Händels Messias gibt es in so vielen fantastischen Versionen, eigentlich konnten wir gegen die Übermacht der Gardiners, Richters und Hogwoods in den Gehörgängen unseres Publikums nur verlieren. Und haben aus Trotz einfach ein halbes Jahr lang eine Stimmtrainerin immer wieder jeden einzelnen Sänger coachen lassen.

Es wurde das erste Konzert, in dem unser Publikum stehend eine Zugabe verlangte.

Aber die wichtigste Währung am Pult ist gar nicht der Schlussapplaus, nicht die Lautstärke der „Zugabe!“-Rufe.

Die mit Abstand wichtigste Währung ist, ob die Sänger nach der letzten Verbeugung dieses seltene, selige Leuchten im Gesicht haben, das sagt: So gut haben wir noch nie gesungen. Hier waren wir noch nie.

Das ist das eigentliche Ziel von Führung.

Dieser Moment, wenn am Morgen des Pitches die fertige Präsentation ans Team geschickt wird und irgendjemand halblaut murmelt: „Die wären ja schön blöd, wenn sie das nicht nehmen würden…“.

Beides sind kostbare Augenblicke, denn nicht jeder Pitch kann gewonnen werden, nicht jedes Konzert endet in Beifallsstürmen.

Und wenn dann der Saal tatsächlich nur halbvoll war, der Pitch verloren ging, der Kunde wieder nur die Standardlösung wollte, dann hat man wenigstens die erträglichste aller Niederlagen erlitten: die „Fuck you, wir waren groß!“-Niederlage.

Denn was bleibt am Ende? Kunden und Etats (und Konzerte) kommen und gehen. Das Team aber, das an ihnen über sich hinausgewachsen ist, bleibt.

Und wird beim nächsten Mal noch Größeres liefern.

Vor Dir eine schwarz-weiße Wand aus Marketingleuten und Produktmanagern. Business-Anzüge, angesagte Krawatten, hier und da ein Kostüm und halbherzig verdeckte iPhones. Der Beamer läuft, die Gruppe raschelt dezent, erwartungsvoll die einen, mit verschränkten Armen die anderen.

Du richtest Dich auf, siehst in die Runde und holst Luft.

Und wenn du in den letzten Wochen mit deinen Leuten keine Macht-Spiele gespielt, sondern diesen wahnwitzigen Tanz getanzt hast zwischen das-Team-vorantreiben und den-schwarzen-Peter-annehmen, zwischen ihr-könnt-das-besser-als-ich und da-gehts-lang, dann wird dieser Termin hier vielleicht nicht mit einer Standing Ovation enden – aber ein neuer Etat ist ja auch was Schönes.

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