Essay für das Evonik-Magazin über ein unterschätztes Gefühl

Machen Sie jetzt nichts!

Ein Loblied der Langeweile

Das Massaker begann irgendwann Ende der achtziger Jahre mit der Geburt einer Programmiersprache, die auf den nerdigen Namen Hypertext Markup Language, kurz HTML, hörte. Klingt harmlos? Ja. Aber wenn es je eine Büchse der Pandora gegeben hat, dann ist es ohne Zweifel die aus HTML geschmiedete Brutstätte aller Zeitfresser: Das Internet.

Eine Weile lang passierte allerdings erst mal – nichts. Man hörte nur (wenn man sehr gute Ohren besaß), das leise Surren und Zirpen weltweit verstreuter Forschungsrechner, die durch ihre ersten digitalen Dialoge stotterten.

Aber dann, dann schlüpften sie aus der Büchse. Einer nach dem anderen und einer gieriger als der andere: Zuerst die Browser, dann die Suchmaschinen und dann in immer rascherer Folge Facebook, Youtube, Twitter mitsamt ihrer gefräßigen Geschwister von Snapchat bis Whatsapp.

Und das Massaker an der Zeit begann.

Zuerst wurde Freizeit gekillt. Dann Pausenzeit, dann, mit einer besonders perfiden Kombination aus Nullen und Einsen namens „Moorhuhn“, die Zeit zwischen den Pausen, formerly known as Arbeitszeit.

Als das Massaker seinen Höhepunkt überschritten zu haben schien, krochen die Smartphones aus der Büchse und fielen über die letzten Überlebenden her wie Piranhas über paddelnde Entenküken. Wenig später waren auch sie erledigt: die Wartezeit, die Trödelzeit, die Unterwegszeit und die bis dato zur nasalen Grundreinigung genutzte Zeit zwischen roter und grüner Ampel.

Die Zeit selbst haben diese Zeitfresser natürlich nicht massakriert, aber eine ganz bestimmte, ganz spezielle Form der Zeit, die so nutzlos, unproduktiv, oft sogar unschön war, dass sie seither kaum jemand vermisst:

Die Langeweile.

Sie erinnern sich doch, oder? Diese graue, schier unüberwindlichen Wand aus den Stunden zwischen uns und „Wetten das?!“? Die grinsende Gnomin, die während des relativistisch gedehnten Moments zwischen „planmäßige Abfahrt“ und „… aufgrund von Störungen im Betriebsablauf mit einer Verspätung von…“ neben uns auf dem Bahnsteig auf- und ab hüpfte? Genau die.

Heute muss man schon hinter den Toren eines Tibetischen Schweigeklosters verschwinden oder Kinder beobachten, denen man als finale Eskalationsstufe nach drei Sechsern im Mathe alle elektrischen Geräte weggenommen hat, um diesem rätselhaften, einer schweren Krankheit nicht unähnlichen Zustand wieder zu begegnen.

Denn die Langeweile ist praktisch tot. Besiegt. Ausgemerzt. Verscharrt unter 13 Millionen WhatsApp Nachrichten, drei Millionen Facebook-Posts und 300.000 Google-Anfragen – pro Minute. Jeder Bildschirm ein Grabstein, jedes WLAN-Netz ein Friedhof, jedes retweeten, liken und verlinken ein Todesstoß für die letzten ungenutzten, unproduktiven, unaufgeregten Momente unseres dauervernetzten Lebens.

Ja und? Ist es denn ein Problem, wenn wir beim leisesten Heranflattern ungefüllter Zeit, beim entferntesten Murmeln von Minuten, die keiner emotionalen Kostenstelle zugeordnet werden können, auf Youtube gehen, bei Facebook einchecken und schnell noch was googeln? War das denn früher, in der medialen Einöde unserer Sommerferien wirklich besser? Und wenn ja, warum haben wir dann unsere Mutter vorwurfsvoll angequengelt: „Wir wissen nicht, was wir spielen sollen!“, als hätten wir geahnt, dass es in naher aber unerreichbarer Zukunft etwas geben würde, das dieser elendig ereignisfreien Zeit etwas Sinn oder wenigstens ein paar Pixel einhauchen würde? Ist es denn wirklich so schlimm, dass Kinder nicht mehr aus Verzweiflung die Regentropfen an der Scheibe zählen oder mit dem Bonanza-Rad 200 Runden um den Baum im Hof drehen?

Die Antwort lautet:

Ja. Das ist es. Sehr sogar.

Denn was passierte damals, nachdem Mutti uns mit einem „Lasst euch halt was einfallen!“ völlig ungerührt wieder nach draußen schickte?

Wir ließen uns was einfallen.

Gewagte Sprengstoff-Experimente mit Senf, Schwarzpulver, River-Cola und Vaters aus der Garage geklauten Bunsenbrenner. Radtouren weit über das elterlich genehmigte Gebiet hinaus, von denen wir zerschrammt wie altes Meißner Porzellan aber triumphal zurückkehrten, beladen mit japsenden Fröschen und einem Transistorradio ohne Boxen, den Hinterreifen mit Heftpflaster und frischem Kaugummi geflickt.

Und wenn die Bunsenbrenner-Gaskartusche leer und es zu heiß oder zu nass für draußen war, dann haben wir uns, halbtot vor Langeweile, einfach Spiele einfallen lassen. Heute könnten wir vermutlich Millionen verdienen mit der Online-Version unseres „Hot-Wheels-Weitsprung-Contest mit ohne Anschubsen“ und der „Lego-Raumschiff gegen Steinschleuder“-Schlacht, damals fielen uns diese Ideen einfach so zu, mitten in der gähnend-glühenden Leere eines Sommernachmittags oder wenn der zwölfte atlantische Tiefausläufer in Folge durch den Juli und den Eingang unserer Baumhütte prasselte.

Was uns das lehrt?

Dass Langeweile gar keine langweilige Zeit ist, auch wenn sie sich manchmal so anfühlt.

Wer genau hinsieht, entdeckt, dass Langeweile in Wahrheit das magische Atemholen vor einer großen (oder kleinen) Idee ist, der Freiraum, in dem etwas in uns loslässt und losläuft, ohne Plan, ohne Ziel und vor allem ohne anständige Kosten-Nutzen-Risiko-Chancen-Abwägung. Mit anderen Worten: Einfach so.

Was dann geschieht, kann man im alten indischen Märchen von den drei Prinzen Serendip nachlesen – die es als „Prinzip der Serendipität“ inzwischen zu wissenschaftlichem Rang gebracht haben. Diese drei fanden auf ihren Reisen Reichtum, Glück und Weisheit gerade weil sie nicht danach suchten.

Genau wie Alexander Fleming (Penicillin), Christopher Columbus (Amerika) oder Marie Curie (Röntgenstrahlen), die ihre Entdeckungen machten, gerade weil sie nicht danach suchten. Ein Satz, den auch August Kekulé unterschreiben würde. Er entschlüsselte 1861 die bis dahin rätselhafte Molekularstruktur des Benzols buchstäblich im Traum – vielleicht nicht die langweiligste Phase unseres Tages, aber die, in der wir kein Ziel, keinen klaren Gedanken haben. Was offenbar hilfreich ist, wenn man gerade die theoretischen Grundlagen der organischen Chemie legen möchte.

Nichts gegen konzentriertes Denken, intensives Suchen, große Ziele. Ohne sie wären Errungenschaften wie Beethovens 5. (Sinfonie) oder Apples 6. (iPhone) nie – und wir merken, wie gut dieses Wort hier passt – errungen worden. Aber wie das Ausatmen zum Einatmen, das Barfußgehen zu High-Heels und der High-Five zum Handkuss, so gehört die Langeweile zu all unserem Aus-Denken, An-Streben, Er-Ringen.

Besser gesagt: gehörte.

Denn diese scheinbar leeren Momente, in denen wir früher den verrückten Aufkleber an der Rückwand der Bushaltestelle entdeckten, oder jenes Mädchen, das wir eigentlich schon tausendmal gesehen hatten – sie gehören heute den digitalen Zeitfressern.

Es gibt inzwischen eine ganze Generation von Jugendlichen, die gar nicht mehr weiß, was Langeweile ist, weil sie beim leisesten Verdacht auf Leerlauf sofort zum nächsten Bildschirm greifen und checken, chatten, pinnen. Nicht dass wir Erwachsenen besser wären. Wir verpassen ständig wenn schon nicht unseren nächsten Geistesblitz dann auf jeden Fall die Welt um uns herum, die ja leider in ihrem Normalzustand nicht mit dem neuesten GoPro-Youtube-Video mithalten kann.

Vor allem aber verpassen wir einen Zustand, für den die Altvorderen ein wundervolles Wort besaßen: Müßiggang.

Und bevor Sie das jetzt googlen: Müßiggang ist „das entspannte, von Pflichten freie Ausleben, ja sogar Nichtstun“ das lange als „unverzichtbare Grundlage für Kunst und Kultur“ galt. Mit anderen Worten: Leerlauf ist der beste Anlauf. Keine Langeweile, keine Mona Lisa. Nicht mal explodierender Cola-Senf.

Was also tun: Digitaler Zölibat? Screens zu Pflugscharen? Internet-Rationierung? Es muss doch bessere Möglichkeiten geben, die Langeweile wieder zu Ehren kommen zu lassen, oder? Vielleicht sollte man mal Experten fragen, oder Studien durchführen oder eine Facebook-Befragung starten, oder…

Oder wir machen einfach mal wieder gar nichts.

Dabei sind uns früher auch immer die besten Sachen eingefallen.

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